Irritation durch Systematik

Die Werke Reinhard Roys waren jüngst im Mies van der Rohe Haus in Berlin in einer wunderbaren Ausstellung zu sehen. Gerade an diesem Ort, in der Architektur Mies van der Rohes, dem letzten Bauhausdirektor, gehen die Kunstwerke und das Gebäude eine wunderbare Synthese ein. Das liegt nicht nur daran, dass Mies van der Rohe auch bei diesem Bau bewiesen hat, dass er zu Recht als einer der elegantesten der Architekten der Moderne gilt. Sein wunderbarer Bau schlägt gleichzeitig den Bogen zum Bauhaus und damit auch zum Anfang der Konkreten Kunst. Das soll nicht heißen, dass die Konkrete Kunst am Bauhaus entstanden ist, aber gerade dort war es möglich, dass sie besonders einflussreich und nachhaltig wirken konnte. Als Kunst des Industriezeitalters konnte die Konkrete Kunst – oder wie sie damals noch genannt wurde: der Konstruktivismus – am Bauhaus unmittelbar Einfluss nehmen auf die Gestaltung der modernen, der industriellen Welt.

Hier sei kurz der Künstler und Bauhaus-Meister Laszlo Moholy-Nagy zitiert:

„Und diese Wirklichkeit unseres Jahrhunderts ist die Technologie: die Erfindung, Konstruktion und Wartung von Maschinen. Maschinen benutzen heißt im Geiste unseres Jahrhunderts handeln. Es ist die Kunst des Konstruktivismus. In ihm findet die reine Form der Natur ihren Ausdruck – die ungebrochene Farbe, der Rhythmus des Raumes, das Gleichgewicht der Form. Er ist unabhängig von Bilderrahmen und Sockeln. Er erstreckt sich auf Industrie und Architektur, auf Gegenstände und Beziehungen. Konstruktivismus ist der Sozialismus des Sehens.“

Am Bauhaus entstand Anfang der Zwanzigerjahre ein neues Kunstverständnis. Die Kunst sollte nicht mehr l`art pour l`art sein, sondern reinster und unmittelbarster Ausdruck einer neuen, völlig veränderten Welt. Dies ging einher mit einem veränderten Selbstverständnis des Künstlers als Dienstleister, Gestalter und Mitglied eines kreativen Teams, das am Bauhaus entstehen sollte. Die Kunst, die angewandte Gestaltung und die industrielle Produktion sollten Hand in Hand zusammenarbeiten und sich wechselseitig bedingen.

Dieser Exkurs zum Bauhaus ist nötig, da der Verweis auf das enge Verhältnis von Konkreter Kunst und industrieller Produktion auch für das Verständnis der Arbeiten von Reinhard Roy unabdingbar ist.

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Die Werkgruppe der Punktbilder
Die Initialzündung für die Punktbilder – so verraten es mehrere Katalogtexte – war ein Lochblech, das Reinhard Roy auf einer Baustelle gefunden hat. Das Lochblech ergab einen Punktraster, der zum Ausgangspunkt vieler Bilder wurde, zum „charakteristischen Ausdrucksmittel“, wie Roy es selbst nennt. Heinz Gappmayr hat diese Werkgruppe Roys sehr treffend beschrieben:

„Was in den Arbeiten von Roy zu sehen ist, kommt nicht von außen, sondern wird vom Raster bestimmt. Dieser verweist nicht auf irgendwelche Inhalte außerhalb des Bildes. Er hat keine vermittelnde Funktion, sondern präsentiert sich selbst als künstlerische Substanz. Die Rasterweite ist so gewählt, dass die einzelnen Punkte immer noch sichtbar bleiben. Sie schließen sich auch in der Entfernung nicht zu einem vorgetäuschten Halbton zusammen. Was als Grundelement aufgefasst werden soll, Punkt oder Fläche, ist ambivalent. Die gerasterten Flächen vibrieren, sie bleiben in einem Zustand der Unruhe und Instabilität.“ Klee hatte den Punkt in seiner Lehre am Bauhaus als Energiezentrum definiert, das aus dem Schnittpunkt zweier Geraden entsteht. Der Punkt ist eigentlich ein ominöses Gebilde. Denn sobald er sich manifestiert, sobald er auf der Leinwand gesetzt wird, läuft er Gefahr, verloren zu gehen. Wenn er zu viel Masse bekommt, wird er zum Kreis und geht als Punkt verloren. Was also ist eigentlich ein Punkt? Reinhard Roy greift sich dieses urkünstlerische Ausdrucksmittel heraus, das auch schon Kandinsky in seinem Buch „Punkt und Linie zu Fläche“ als eines von drei entscheidenden Ausdrucksmitteln thematisiert hat. Ganz im Geiste der Konkreten Kunst wendet Roy sich diesem einen Ausdrucksmittel zu und erforscht seine Darstellungsmöglichkeiten. Er kombiniert es mit der Systematik des Rasters und schafft damit ästhetische Objekte, die par excellence für die Ästhetik der modernen, industriell geprägten Welt stehen. Mit seinen Punktbildern wendet Roy sich einer Thematik zu, die Anfang der Sechzigerjahre entwickelt wurde. Die menschliche Wahrnehmung wird durch die intensive Irritation des Auges hinterfragt und es entwickelt sich gleichzeitig eine objektiven Gesetzmäßigkeiten folgende Kunst. Spiel und Wissenschaft, Ratio und Emotion liegen eng beieinander.

Die Werkgruppe der Skulpturen

Mit der Werkgruppe der Skulpturen ist Reinhard Roy vor einiger Zeit eine Überraschung gelungen. In der Geometrie und ihrem Formenarsenal schlägt sich die Fähigkeit des Menschen nieder, die natürliche Welt in ein System von Zeichen einzufangen, das gegenüber der Natur Autonomie beansprucht. Die fortschreitende Zivilisation hat der Geometrie als konstruktiver Wissenschaft den Vorrang vor der eigengesetzlichen und letztlich dem menschlichen Zugriff entzogenen Natur gegeben. Zwischen der angewandten Geometrie der funktionalen Welt, die oft am rechten Winkel erstickt – man denke an die Hochhaussiedlungen Marzahn oder Gropiusstadt – und der autonomen Geometrie als geistigem Modell, gibt es offenbar ein breites Feld künstlerischer Auseinandersetzungen und Möglichkeiten.

Die Skulpturen von Reinhard Roy sind zweifelsohne ausschließlich autonome, nur sich selbst meinende räumlich-skulpturale Gefüge. Sie sind elementaren Gestaltformen verpflichtet, und doch setzen sie, anders als etwa die Punktbilder, suggestive Energien frei, welche in der von Erinnerungen gespeisten Imagination fiktive Modelle wachsen lassen. In der großen schwarzen Arbeit könnte man vielleicht ein Gewinde erkennen, eine andere weiße Arbeit erinnert an ein Scharnier, wieder eine andere wird oft liebevoll als „Heizkörper” bezeichnet. Alle Skulpturen jedenfalls erlauben Assoziationen die in die technische Welt führen. Dabei wird der Grad von Annäherung und Differenz anschaulich, ohne dass sich eine Grenze begriffsscharf ausmachen lässt. Die Arbeiten sind bis hin zur Verweigerung von Titeln abstrakte Kompositionen, Konstruktionen aus dem Arsenal der konkreten, Raum besetzenden und Raum definierenden Kunst. Dennoch wirken sie im Reich der Imagination als Fiktionen funktionaler Gegenstände ohne konkretisierbare Zugehörigkeit zu räumlichen oder zeitlichen Systemen. Diese fiktionalen Modellentwürfe erlauben immer den „Rückzug“in die Autonomie der abstrakten Konstruktion. Und gleichzeitig kann jede abstrakte Konstruktion Energien und ulse fiktionaler Gestalt annehmen. Die ständige Balance entbindet die Skulptur jeglicher nützlichen Verfügbarkeit, ohne sie des Stachels gegen die nützbegriffsscharf ausmachen lässt. Die Arbeiten sind bis in die Verweigerung von Titeln abstrakte Kompositionen, Konstruktionen aus dem Arsenal der konkreten, Raum besetzenden und Raum definierenden Kunst. Dennoch wirken sie im Reich der Imagination als Fiktionen funktionaler Gegenstände ohne konkretisierbare Zugehörigkeit zu räumlichen oder zeitlichen Systemen. Diese fiktionalen Modellentwürfe erlauben immer den „Rückzug“ in die Autonomie der abstrakten Konstruktion. Und gleichzeitig kann jede abstrakte Konstruktion Energien und Impulse fiktionaler Gestalt annehmen. Die ständige Balance entbindet die Skulptur jeglicher nützlichen Verfügbarkeit, ohne sie des Stachels gegen die nützliche Ordnung des Faktischen zu berauben. Der Grad an Assoziation mit Vorhandenem, das Potenzial an Impulsen für modellhafte Projektionen, beide aus einer ebenso lokalisierbaren Erinnerung des gegenwärtigen wie aus dem kollektiven archaischen Formbewusstsein gespeist, ist von Werk zu Werk verschieden. Mal bleibt das Maß an Abstraktion so groß, dass sich die elementaren Strukturen mit nichts anderem als sich selbst in Beziehung setzen, mal gleitet die Imagination mehr in den Bereich der fiktionalen Gegenständlichkeit oder modellhafter Visionen, ohne dort dauerhaft verweilen zu können. In den Skulpturen von Reinhard Roy greifen sprachlich-begriffliche und bildliche Motive ineinander. Roy schöpft aus dem logisch konstruierten Formenschatz der Konkreten Kunst und verbindet diesen mit begrifflichen Bildern aus unserer industriell geprägten Umgebung. Doch diese bewusstseinsmäßigen Abstraktionen der erlebten Welt werden uns gleichzeitig als Schieflage einer absurd-kreativen, spekulativen Imagination vorgeführt. Wir sind so sehr konditioniert durch die Ästhetik der industriellen Welt, dass wir nur noch ihre Codes verstehen und kaum mehr davon abstrahieren können. Hier sitzt dem konkreten Künstler Reinhard Roy deutlich der Schalk im Nacken, der gerade auch seine Persönlichkeit auszeichnet. Er schafft es, in diesen Arbeiten durch ein ambivalentes Verhältnis von kunstimmanenter Reflexion und inhaltlicher Aussage das klassische Verhältnis der Konkreten Kunst zur industriellen Welt neu zu hinterfragen. Wie in den Punktbildern wird unsere Wahrnehmung hinterfragt und der Blick für die Ästhetik der industriell geprägten Welt spielerisch neu geschärft.

Tobias Hoffmann
Ingolstadt, Oktober 2007