Fläche und Raum

Zum Werk von Reinhard Roy

Reinhard Roy bezeichnet den Punktraster als das charakteristische Ausdrucksmittel seiner künstlerischen Arbeit. Sein Werk ist ein Beispiel dafür, wie schnell man sich von der Realität der Bilder und Plastiken entfernt, wenn man nach Einflüssen historischer Vorbilder oder nach Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen Arbeiten sucht. Roy hat für sich den Raster entdeckt. Dieser Fund bedeutete für ihn zugleich die Entdeckung eines neuen künstlerischen Konzepts, das nicht nur für einige Versuche, sondern für alle künftigen Arbeiten verbindlich sein sollte. Es war nicht so, dass er den Raster als Ersatz für monochrome Flächen oder als Möglichkeit von Modifikationen konkreter Bilder verwenden wollte. Vielmehr gab ihm der Raster gewisse Möglichkeiten, aber auch Grenzen vor, mit denen er sich auseinandersetzen musste. Der Widerstand, den ihm der reduzierte formale Bestand entgegenbrachte, bot ihm auch überraschende Chancen. Er teilt mit allen, die sich in der Kunst bewusst nur auf einige wenige wichtige Elemente beschränken, die Schwierigkeit, sich in der Variabilität frei zu bewegen.

Das ergibt eine neue Bewertung scheinbar geringer Unterschiede. Unscheinbares kann das Bild in seiner Gesamtheit verändern.
Was in den Arbeiten Reinhard Roys zu sehen ist, kommt nicht von außen, sondern wird vom Raster bestimmt. Dieser verweist nicht auf irgendwelche Inhalte außerhalb des Bildes. Er hat keine vermittelnde Funktion, sondern präsentiert sich selbst als künstlerische Substanz. Abzusehen ist auch nicht von den technischen Voraussetzungen. Sie sind konstitutiv für das Bild, vor allem was die Möglichkeiten der Veränderungen betrifft.
Die Rasterweite ist von Roy so gewählt, dass die einzelnen Punkte immer noch sichtbar bleiben. Sie schließen sich auch in der Entfernung nicht zu einem vorgetäuschten Halbton zusammen. Dem Blick drängt sich der Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit, Teil und Ganzem auf. Was als Grundelement aufgefasst werden soll, Punkt oder Fläche, ist ambivalent. Die gerasterten Flächen vibrieren, sie bleiben in einem Zustand der Unruhe und Instabilität. Seine Bilder tendieren zur Räumlichkeit und Plastizität. „Ich nutze“, schreibt Roy, „dieses Gestaltungselement zur Darstellung räumlicher Wirkungen auf der Fläche.“ Die Plastizität wird erhöht durch Verschieben der Schablone und die Verwendung mehrerer Farben. Die Subtilität und künstlerische Relevanz der Bilder Roys zeigt sich aber gerade in dem Widerspruch, dass die Räumlichkeit keine wirkliche ist, sondern nur eine in der Vorstellung des Betrachters. Aktiviert wird durch die Strukturen aus Punkten das räumliche Denken oder der Raum als transzendentale Realität und nicht die bloße Akzeptanz einer sinnlichen Wahrnehmung. Von diesen elementaren Bedingungen aus gesehen, sind Farbe, Format und Komposition nicht von so entscheidender Bedeutung für das einzelne Werk, solange sie mit dem übereinstimmen, was an unverzichtbaren Grundvoraussetzungen des künstlerischen Konzepts Reinhard Roys vorgegeben ist. PO---1404-2017-∅-80cm

Ein Vergleich der verschiedenen Rasterflächen, ihrer Stellung im oft quadratischen Bildraum, der Schichtungen, Schattierungen, Moirés und Farben stellt die Unterschiede zwischen den Bildern deutlich heraus. Da gibt es eine Reihe von Arbeiten in kaltem Blau mit roten Rasterungen, aber auch Bilder in Grau und hellem Ocker. Roy bevorzugt Zwischentöne, er vermeidet die Gegenüberstellung von Primärfarben, was seinen Werken eine große Leichtigkeit und Intensität verleiht. Er distanziert sich auch von jedem Schematismus, ein Aspekt von besonderer Wichtigkeit. Die gerasterten Flächen sind in immer wieder neuen Gewichtungen im Bildraum verteilt, als quadratische Einzelfläche in der Mitte oder als Rechteck, das den oberen Bildrand berührt. Flächen von unterschiedlicher Größe, freistehend oder übereinander geschichtet, akzentuieren die Grundfläche, oder, fast Ton in Ton, an den Rändern den Binnenraum. In der Präsenz der ausgesparten Oberfläche gewinnen manche Bilder etwas Meditatives. Sie stellen nichts anderes dar, als was sie selbst sind. Das Sichtbare verweist nicht auf etwas ihm Übergeordnetes.

Der Punkt ist eine mathematische Größe, in den Bildern Roys ist er materialisiert, er hat eine Form angenommen, durch die er uns als ein Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung zugänglich ist. Er kann innerhalb eines Kontexts aber nur bis zu einem bestimmten Grad vergrößert werden, ohne alle seine Eigenschaften als Punkt zu verlieren. Vergrößert wird er zu einer Kreisfläche. Die Grenze zwischen Punkt und Kreisfläche ist nicht genau zu definieren. Die Reihung von Punkten, bei der es auf den optimalen Abstand von Punkt zu Punkt ankommt, bildet eine Fläche mit einem bestimmten Tonwert. Erstaunlich ist, dass aus einzelnen getrennten Partikeln eine übergreifende Einheit entsteht, die als etwas Zusammengesetztes und zugleich als virtuell in sich geschlossenes Kontinuum gesehen werden kann. Meistens wählt Roy Rasterflächen von gleicher Dichte. Doch gibt es auch Ausnahmen. Zum Wesentlichen seines Werkes gehört die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen. Seine Flächen sind durchsichtig, aber in ihrer Präsenz auch kompakt. Je transparenter die Flächen, desto geringer ihre Geschlossenheit. Die äußerste Differenz wäre eine Fläche, nur an den Ecken markiert, verglichen mit einer Fläche ohne Raster. Ansätze zu einer extrem reduzierten Abgrenzung der Flächen finden sich in den Plastiken Roys. Die Transparenz der gerasterten Flächen, das Schwebende, zeichnet seine Bilder aus, aber auch die Thematisierung der Frage nach der Konstruktion von Wirklichkeit. Die in der Fläche durch Rasterpunkte und Schatten suggerierte Räumlichkeit aktualisiert die ganze Problematik der Wahrnehmung, zu der auch die Perspektive zählt. Dass die Entfernung die Gegenstände verkleinert und sie verschwinden lässt, widerspricht der Erfahrung: Die entfernten Gegenstände sind von ungefähr gleicher Größe wie diejenigen in unserer nächsten Umgebung. Der Ausdruck einer optischen Täuschung ist hier aber nicht angebracht. Wir können die Art, wie wir Wirklichkeit erfassen, nicht relativieren. Das gilt auch für die gerasterten Flächen von Roy, ihren Schwingungen, ihrer Transparenz und Räumlichkeit.
Eine Übertragung der Konstanten seiner Bilder ins Dreidimensionale ist an jeder der plastischen Arbeiten zu erkennen, auch wenn hier, bedingt durch das Material, oft wesentliche Veränderungen erforderlich waren. Bei den Reliefs ermöglicht die Vergrößerung der Abstände zwischen den gestanzten Punkten Ansätze von Strukturen innerhalb einer Reihung von gerillten Feldern. Die Ränder sind genietet. In anderen halbplastischen Werken sind die Punkte auf die Spitzen kleiner Metallstifte transferiert. Diese sind als Markierungen einer Grundfläche angeordnet. Wichtig ist hier der Schatten der Stifte durch seitliche Beleuchtung. Ein Objekt aus Pappe, Papier und Draht deutet in der Form von Innen und Außen und durchlöcherter Wand eine Struktur an. Von Roy ist aber auch die große Plastik im Freien, eine Metallplatte mit gebohrten Punkten auf einer Halterung. Hier wird auf eindrucksvolle Weise sichtbar, was für seine Kunst signifikant ist.
Voraussetzung für die Unverwechselbarkeit ist ein bildnerisches Konzept, das sich von allen anderen künstlerischen Möglichkeiten unterscheidet und ein Werk, das sich aus sich selbst entwickelt. Alles was sich ins Sichtbare umsetzen lässt, ist in der entscheidenden Grundidee potentiell enthalten. Bei Reinhard Roy ist es der Raster im Gegensatz zur geschlossenen Fläche, der ihn fasziniert, nicht um ihn zur Herstellung von Verläufen zu verwenden wie in der Drucktechnik, auch nicht primär, um kinetische Effekte zu erzielen. Er hat intuitiv die künstlerische Relevanz der Rasterflächen erkannt. Die minimalistischen Strukturen aus Punkten sind nicht dekorativ, sie nehmen in ihrer Unaufdringlichkeit und bedrohten Konsistenz von den zur Verfügung stehenden gerasterten Flächen weniger als die Hälfte ein. In der Kunst geht es um die Verwandlung des Sichtbaren ins Gedankliche, um ein Bild im Unterschied zu einem Objekt, um Immaterialität durch Reflexion. Die Werke von Reinhard Roy erfüllen diesen Anspruch in immer neuen subtilen Varianten.

Heinz Gappmayr,
Innsbruck April 2002