Budapester Besucher konnten…

Budapester Besucher konnten im Herbst 2010 in der Punkt, Linie, in Bewegung betitelten Ausstellung des Kunstvereins Offene Strukturen (OSAS) im Vasarely Múzeum zum ersten Mal einem charakteristischen „Punktraster”-Gemälde von Reinhard Roy begegnen. Ähnliche Bilder des Künstlers waren bereits 2009 in der Galerie Paks sowie in der Präsentation der Sammlung Siegfried Grauwinkel (2013) zu sehen. In der Ausstellung Határesetek / Interspaces* wiederum, die sich dem Grenzgebiet zwischen Architektur und Kunst widmete, war Roy mit einem größeren Stahlobjekt vertreten, das anschließend im Garten der Modernen Galerie Veszprém installiert werden konnte.

Kunst hat Bestand, wenn sie eine eigene Identität hat, schreibt der japanisch-amerikanische Bildhauer Isamu Noguchi.** Reinhard Roy definiert das Punktraster bzw. den Punkt als Identifikationsmerkmale seiner bildnerischen Arbeit. Die durch geometrische Klarheit und perfekte Flächen gekennzeichneten Bildwerke und die großformatigen, in industrieller Technik ausgeführten Edelstahlobjekte sind für mich Produkte eines einheitlichen künstlerischen Konzepts.

Roy bringt seine Werke, wie er es selbst formuliert, durch Hinzufügen und Wegnehmen hervor. Sie können als geschlossene Systeme beschrieben werden, deren Beziehung zu ihrer Umgebung keine wichtige Rolle bei der Betrachtung spielt. Ihre Struktur wird durch andere Bindungen und Verbindungen bestimmt: bei den zweidimensionalen Arbeiten durch die Verbindung zwischen dem Punktfeld (der Vielzahl der Rasterpunkte / dem Punktraster) und der monochromen Fläche sowie durch die Verknüpfung mit einem weiteren, nur intuitiv wirkenden, aber ebenso wesentlichen Element, das Roy selbst als „Randzone” bezeichnet. Diese Randzonen entstehen durch die Begegnung der primären Bezugssysteme, sozusagen als Abbildungen der Grenzen einer gewissen Veränderung des Bewegungszustands. Sie lassen sich im monochromen Bereich der Bilder oder in der Nähe der Bildränder lokalisieren.

Ich spreche von Bewegungszustandsveränderung, obwohl ich die Bewegung nur spurenhaft registriere. Roy komponiert die monochrome Fläche aus mehreren Lasurschichten unterschiedlicher Farbe. Die geometrisch geordnete Menge der Punkte, die man sowohl als eine auf die Fläche gespannte Gitterstruktur als auch als eine vibrierende, irisierende Vielheit wahrnehmen kann, wirkt auf der Bildfläche meist als etwas, das aus den inneren Prozessen des in seiner Stofflichkeit erfassbaren Bildwerks hervorgeht und sich über den Bildkörper mit der Bildfläche verbindet. Das aus mehreren Lasurschichten aufgebaute Farbfeld und die darüber gelegte Rasterpunktmenge sind in ihrer „Bewegungsrichtung” einander entgegengesetzt. Das Ineinanderfließen und Durchscheinen der farbigen Lasurschichten entlang der Bildfläche wirkt in die entgegengesetzte Richtung als die punktartigen Elemente, die auf geometrische Immersion hinweisende, intuitive Tiefenprozesse generieren. Die Acryl- und Papierbilder und die Objekte können gleichermaßen durch diese Ambivalenz, die Komplexität des malerischen und zugleich geometrischen Paradigmas beschrieben werden.

Ob wir uns das jeweilige Werk als Bild, als Objekt oder als räumliches Verbindungselement mit architektonischen Dimensionen denken, hängt von den Größenverhältnissen, vom Maßstab ab: Von den Punkten, Punktausschnitten und am Drehungspunkt entstehenden Gängen können wir so zu den aus der Rotationsbewegung hervorgehenden Objekten und zu architektonischen Räumen gelangen.

Dieses kinetische Phänomen weist zugleich auf Vasarely zurück, bei dem jedoch das Prinzip des Kinetischen und der Serie auf eine andere Art und Weise als bei Roy erscheint. Ein gemeinsamer Zug der beiden Künstler hingegen ist die Möglichkeit der „architektonischen Integration” bildnerischer Objekte (bei Vasarely zum ersten Mal 1954/1955, als er mit C. R. Villanueva die Keramikwand Hommage à Malewitsch für die architektonische Umgebung der Universität Caracas entwarf). Roy arbeitete 2008 mit Oscar Niemeyer in Brasilien an einem gemeinsamen Projekt zusammen, der sich anschließend so über Roy äußerte: „Ich bewundere Reinhard Roys Arbeiten und schätze sie hoch, vor allem weil er das Neue sucht und zu überraschenden Entdeckungen gelangt.”

Die Grundaussage des Werks von Reinhard Roy, seiner Bilder wie seiner Objekte, entsteht aus den Grenzbereichen des Konzeptuellen und dem Experimentieren mit ihm. Kennzeichnend für Roy ist die Attitude des freien Künstlers: Er vertraut der Geometrie, der von menschlicher Hand unberührten konkreten Form etwa in der Art und Weise, wie wir unter optimalen Umständen den Gegenständen und der architektonischen Umgebung vertrauen können.

*Die Teilnehmer wurden von István Haász eingeladen. Die erwähnten Ausstellungen von OSAS im Vasarely Múzeum Budapest: Punkt, Linie, in Bewegung, 14. Okt. 2010 – 6. Jan. 2011, Kuratorin: Dóra Maurer; Grauwinkel Gyűjtemény. Harminc év konkrét művészet / Sammlung Grauwinkel. Dreißig Jahre Konkrete Kunst, 1982–2012, 12. Mai – 15. Sept. 2013, Kurator: István Haász; Határesetek / Interspaces. 16. Okt. 2013 – 10. Jan. 2014, Kuratorin: Dóra Maurer.
** „Art endures when it has own identity“. I. Noguchi, zitiert in D. Apostolos-Cappadona-B. Altshuler (Hrsg.), Isamu Noguchi: Essays And Conversations, New York, 1994, S.115.Vgl. die Erinnerungen des japanischen Bildhauers über seine Zeit im Atelier von Brâncuşi, in Edith Balas, Krisztina Passuth, Brâncuşi és Brancuşi. Budapest 2005, S. 13.

Györgyi Imre,
Budapest 2014